“Social Entrepreneurship in Deutschland” von P. Kenel et al. – Buchrezension von Gerd Hofielen

“Social Entrepreneurship in Deutschland” von P. Kenel et al. – Buchrezension von Gerd Hofielen

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Rezension von Gerd Hofielen, 7.4.2025

 

Der Sammelband wurde Anfang des Jahres 2025 im transcript Verlag von vier Herausgeber:innen veröBentlicht. Alle Aufsätze haben eine wissenschaftliche Fundierung und wenden ein breites Spektrum von Methoden an. Ich greife einige Diskussionen des Bandes auf, zu denen ich einen Bezug habe.

 

Zusammenfassend:
Social Entrepreneurship (SE) wird als Innovation in der Nische beschrieben. Es gelingen innovative Impulse, ohne bisher aus der Nische auszubrechen. Somit kann SE nicht als gesellschaftliche Innovation bezeichnet werden. Der Innovations-Impact der SE Unternehmen ist dennoch im Einzelfall groß. SE greift gesellschaftliche Probleme auf und zeigt praxistaugliche Lösungen. SE ist eine gute Möglichkeit für hochmotivierte Einzelne, sich unternehmerischer Vorgehensweisen zu bedienen und Veränderungs-Ideen in die Welt zu bringen. Manche Akteur:innen haben ein deutliches Profilierungs-Bedürfnis und Sendungsbewusstsein und stellen das in den Dienst einer guten Sache.

 

Die Unternehmer:innen sind Menschen mit einer ausgeprägten Werte-Orientierung, haben ein waches Problembewusstsein und eine Bereitschaft, sich in herausragender Weise zu engagieren. Das gilt auch für die meisten freiwillig oder angestellt Beschäftigten der SE, die mit großer Begeisterung mitwirken.
SE ist gerade angekommen in der Politik und mit einem Förderprogramm von 110 Millionen durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) bedacht, aktuell werden die Förder-Möglichkeiten möglicherweise wieder enger, wenn andere Prioritäten der deutschen Politik in den Vordergrund treten. Die Wissenschaftlichkeit des Sammelbandes stellt eine gute Grundlage für weitere Forschung dar. Die Praxis von Sozialunternehmen wird jedoch nicht detailliert dargestellt. Hier ist Platz für einen weiteren Sammelband, der anhand von konkreten Praxis-Beispielen aufzeigen könnte, wie SE die Startup Phase durchstehen und mit den Herausforderungen umgehen, um langfristig ihre Existenz zu sichern. Das würde neuen SE weiterhelfen und könnte dazu beitragen, robuste Praktiken zu skalieren.

 

Alle in SE engagierten Menschen verdienen große Anerkennung. Sie investieren viel Zeit und Kraft in die Lösung der Probleme des Gemeinwesens. Die Unternehmen zeigen bereits mit ihrem Unternehmenszweck ein vorbildliches Verantwortungsbewusstsein, indem sie gesellschaftliche Probleme aufgreifen, die von den konventionellen Unternehmen oftmals geschaBen wurden, aber von ihnen vernachlässigt oder gar ignoriert werden. Auch die SE-Praxis ist inklusiver und demokratischer als in der üblichen Wirtschaft. Statt Probleme zur Kenntnis zu nehmen und sich dann abzuwenden, werden sie aktiv. Ihre Beiträge werden oft unter Abstrichen für das persönliche Wohlergehen und Verzicht auf lukrative Karrierewege erbracht. Es sollte in der weiteren Diskussion auch erörtert werden, wie diese empathisch-zupackende Haltung selbst skaliert werden kann.

 

Nun zu einzelnen Diskussionen im Sammelband: Wo sind SE zwischen den Prioritäten auf gesellschaftliche Problemlösung bzw. unternehmerische Verantwortung einzuordnen? Könnte ein Unternehmen wie Patagonia, das vor einigen Monaten in eine Stiftung überführt wurde, als Sozialunternehmen bezeichnet werden? Unter welchen Bedingungen könnte ein Industriekonzern als Sozialunternehmen gelten? Diese Fragestellungen werden in einigen Beiträgen diskutiert. Eine Grenzziehung u.a. erlaubt die Verwendung der Gewinne, die bei Sozialunternehmen für den Unternehmenszweck verwendet werden und nicht für Ausschüttungen an Eigentümer:innen. Die Frage, ob SE zur Nachhaltigkeit beitragen, wird in einem Beitrag etwas optimistisch beantwortet, wenn ausgeführt wird “…die Unterscheidung zwischen der Gründung eines profitorientierten und eines sozial-ökologischen Unternehmens (wird) an Bedeutung verlieren… Beide werden einen ‚volkswirtschaftlichen Business Case‘ brauchen.“ (72) Und wenn erwartet wird „Der Beitrag von Unternehmer:innen zum Gemeinwohl wird künftig durch die verordnete Rechenschaftspflicht nach außen sichtbar und damit ein zentrales Erfolgskriterium.‘ (74) unterschätzt das vermutlich die Abwehrkraft der Profit- fixierten Wirtschaft und deren Einfluss auf die Politik.

 

Eine fundierte Antwort auf die Frage, ob SE eine soziale Innovation darstellen, greift auf empirische Untersuchungen zurück. Soziale Innovationen entstehen erst dann, wenn eine Idee auch Nachahmer gefunden hat. Das kann geschehen durch Expansion im Markt oder durch politische Einflussnahme auf die Rahmenbedingungen oder durch das Gewinnen von Nachahmern. Empirische Untersuchungen erlauben die Schlussfolgerung, dass viele Sozialunternehmen in Deutschland neuartige Produkte und Wirkungsmodelle entwickeln, aber nicht stark auf die Gewinnung von Nachahmer:innen achten. (90) Im Spagat, innovative Lösungen gegen die konventionelle Konkurrenz im Markt behaupten zu müssen, gibt es alle möglichen Schattierungen. Es gelingt nur einer kleinen Anzahl von Unternehmen, die eigene Mission wirtschaftlich stabil zu verfolgen. Wo es gelingt, ist SE ein Portal in die Welt realer Utopien, in der moralische Ideale
umfassend gelebt werden können.

 

Ein Einfluss von SE im sozialen Bereich auf die staatlich finanzierten Sozialunternehmen ist vorhanden. In der sozialen Arbeit wird soziale Gerechtigkeit als grundlegendes Ziel angesehen, zu dessen Erreichung der Sozialstaat auch entsprechende Mittel zur Verfügung stellen soll. Damit wird fachlich qualifiziertes hauptamtliches Personal ermöglicht. Die Organisationen der sozialen Arbeit sind durch ihre staatliche Finanzierung und durch die Trägerschaft von Wohlfahrtsverbände an bürokratische Strukturen gebunden. SE hingegen verfolgen meist eine basisdemokratische Orientierung. Der Großteil der SE hat nicht hauptsächlich das Leitbild der sozialen Gerechtigkeit, sie wollen vielmehr gesellschaftliche Herausforderungen mit unternehmerischen Mitteln bewältigen. Das beinhaltet eine bewusste Abkehr von bürokratischen Logiken, die als nicht erfolgreich angesehen werden. Das Leistungsangebot orientiert sich nicht am Sozialgesetzbuch, sondern an von Sozial-Unternehmer:innen wahrgenommen gesellschaftlichen Bedarfen. Das Startkapital von SE stammt meist nicht aus öffentlichen Mitteln, sondern aus eigenen Ersparnissen, Finanzierung durch Freunde und Familie, Crowdfunding und Einnahmen über den Markt. Einige Wohlfahrtsverbände bieten mit organisationsinternen Innovation-Labs die Möglichkeit, die Sinn und Zielorientierung von SE aufzunehmen.

 

Dadurch schaffen sie soziale Intrapreneur:innen. Das spannendste Thema für den Verfasser dieser Rezension, der in der Gemeinwohl-Ökonomie engagiert ist, war die Frage nach dem SE-gerechten Rechnungswesen. Sozialunternehmen setzen Ressourcen ein, um gesellschaftlichen und ökologischen Nutzen zu schaBen. Weder die Reduzierung von Problemen noch die Schaffung des Nutzens kann in der Buchhaltung adäquat ausgedrückt werden. Die Buchhaltung kennt nur monetäre Größen und alles, was nicht in Geld ausgedrückt werden kann, findet keinen Eingang. Die Auswirkungen diverser sozialer und ökologische Krisen finden in dieser Betrachtung nicht statt. Als Alternative wird die Intention des ‚Sustainable Performance Accounting‘ aufgerufen, denn es hat das Ziel, sämtliche betrieblichen Risiken, auch ESG-bezogene (Environment, Social, Governance), in einer Bilanz sowie in der Gewinn- und Verlustrechnung darzustellen. Damit soll das Einbinden einer Wirkungs-Orientierung in die bestehende Logik des Rechnungswesens ermöglicht werden. Die Erweiterung der Finanzbuchhaltung um die ESG-Risiken einerseits und um die positiven Wirkungen gerade von SE andererseits würde das Rechnungswesen näher an die gesellschaftliche Realität bringen. Ein derartiges Rechnungswesen wäre für die Transformation der gesamten Wirtschaft entscheidend.

 

Die Gemeinwohl-Ökonomie hat aus eben diesen Überlegungen heraus die Gemeinwohl- Bilanz-Methode kreiert, die einige der Anforderungen erfüllt. Zuvorderst wird das Bedürfnis nach einer ganzheitlichen Darstellung des Unternehmensgeschehens erfüllt. Die Gemeinwohl-Bilanz erfasst die gesellschaftlichen Wirkungen auf alle Stakeholder des Unternehmens, inklusive der indirekten Stakeholder wie Natur und gesellschaftliche Systeme. Die Wirkungen werden z.T. in monetären Größen erfasst (z.B. Umsätze); wo das nicht möglich ist, werden stoBliche Messgrößen verwendet (z.B. CO2 Emissionen) und wo auch das nicht geht, werden verbale Beschreibungen verglichen (z.B. Kenntnis der Arbeitsbedingungen bei Lieferant:innen). Die Wirkungsmessung erfolgt durch die Vergabe von Punkten, denen ein vergleichendes Stufenmodell zu Grunde liegt. Das Ergebnis wird, wie bei einer Finanzbilanz, von externen Auditor:innen überprüft und bewertet. Das Gesamtresultat hat durchaus Ungenauigkeiten. Im Vergleich von Unternehmen der gleichen Branche kommen aber sehr treBende Einordnungen zu Stande. Für viele Nachhaltigkeits-Themen gibt es noch keine allgemein anerkannten Bewertungsmethoden. Auch in der klassischen Rechnungslegung nach HGB (Handelsgesetzbuch) und IFRS (International Financial Reporting Standards) gibt es zum Teil erhebliche Ermessensspielräume, zum Beispiel bei Wertpapieren, Immobilien oder Rückstellungen.

 

Die EU-Berichterstattung gemäß CSRD (Corporate Sustainability Reporting Directive) in den Anwendungsvarianten der ESRS (European Sustainability Reporting Standard) und der VSME (Voluntary Reporting Standard for Small and Medium Enterprises) verfolgen das gleiche Anliegen. Bisher sind all diese Berichtsysteme nicht in der Lage, das ESG- Geschehen in Finanzkategorien abzubilden. Die Gemeinwohl Bilanz ist in diesem Feld ein innovativer Beitrag, der seit 15 Jahren in über Tausend Bilanzierungen Anwendung findet. Der Sammelband behandelt weitere Themen: ist SE ein Beitrag zum System Wandel; welchen Platz hat SE in der Bildung; SE im Lichte der Paradox-Theorie; SE und Genossenschaften; Verteilung der Geschlechter in SE im Vergleich zur konventionellen Wirtschaft; Schwierigkeiten der Finanzierung von SE, weil Finanzinvestor:innen an herkömmlichen Renditen interessiert sind und bei Startups ein Exit-Szenario sehen wollen; welche der Unternehmen in Verantwortungseigentum verfolgen soziale Ziele; welche Chancen haben sozialen Intrapreneur:innen in etablierten Organisationen. Für Forschende und konzeptionell Interessierte ist der Sammelband eine Fundgrube. Den in der Praxis von SE Engagierten helfen der Überblick und Tiefe der Erkenntnis weiter, um die eigene Praxis bewusster weiterzuentwickeln.

 

Zum Verfasser:
Gerd Hofielen ist Gründer und Geschäftsführer von Humanistic Management Practices gGmbH, einem Sozialunternehmen, das mit der Verbreitung der Gemeinwohl-Ökonomie als Wirtschafts-Konzept und mit der Erstellung von Gemeinwohl Bilanzen beschäftigt ist.

 

Die Rezension ist hier auch als PDF zu finden.

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